“Wie hast du’s mit der Religion?”
Ihrer Zeit voraus deutete die Goethsche Tragödie mit der Gretchenfrage auf eine Kernproblematik der heutigen Terrorismusdebatte hin, nämlich die strittige Rolle der Religion in der Hinwendung zu politisch-ideologisch motivierter Gewalt im jihadistischen Spektrum. Seit den 9/11-Anschlägen dominiert die Annahme, es handle sich in erster Linie um von religiös-fundamentalistischen Überzeugungen getriebene gewalttätige oder gewaltorientierte Verhaltensweisen.
Vom “islamischen” Staat, der den “Jihad” ausruft, bis hin zu Attentätern, die einen «muslimischen Hintergrund» haben oder vor ihren Gewaltakten zum “Islam konvertieren”, scheint auch vieles auf ihre Richtigkeit hinzudeuten. Wie so oft jedoch trügt der Schein. Der derzeitige Umgang mit der Gretchenfrage ist in analytischer und praktischer Hinsicht untauglich und in gesellschaftlich-ethischer untragbar.
Depolitisierung durch Politisierung
Um die Jahrtausendwende macht sich im nordamerikanischen Raum die These beliebt, die Welt habe es nunmehr mit einem New Terrorism zu tun. Im Gegensatz zu denjenigen der 1970er-Jahre gehe es den «neuen» Terroristen nun nicht mehr um politisch legitime Forderungen, noch seien sie von Unmut und Groll über sozialpolitische Zustände getrieben; es handle sich indessen um religiöse Fanatiker, die beabsichtigen, ihre Ideologien gewaltsam durchzusetzen. Die jihadistischen Formen des Terrorismus werden als aussergewöhnlich und unerklärlich dargestellt und bis anhin erarbeitetes Wissen disqualifiziert.
Der 9/11-Kontext politisiert die Forschung in einer Weise, welche zu einem depolitisierten Verständnis politisch-ideologischer Gewalt führt. Aussagekräftige sozial- und geopolitische Erklärungsansätze mutieren darin zu savoirs assujettis, und weichen einem dominanten Fokus auf kulturalistisch-psychologische Aspekte. Diese analytischen Scheuklappen belasten auch die in jüngsten Jahren florierende Radikalisierungsforschung.
Wenn man die Geneaologie der jihadistischen Bewegungen sowie individuelle Werdegänge etwas genauer studiert, wird jedoch deutlich: obschon ein religiös inspirierter ideologischer Bezugsrahmen durchaus häufig eine Rolle spielt, erlangt dieser nur in einer komplexen Konfiguration sozialpolitischer, soziologischer, psychologischer und situativer Faktoren explikative Bedeutung. Dieser Komplexität muss Rechnung getragen werden.
Problematisch ist vor allem, dass die Wissensproduktion über Terrorismus nunmal nie weit entfernt von Machtstrukturen anzutreffen ist, welche die Aussen-, Sicherheits- sowie Kriminalpolitik massgeblich mitgestalten. Das Beharren auf Islam als unidirektional-explikativen Faktor für jihadistische Gewalt erlaubt es, den Einfluss soziopolitischer Missstände und destruktiver Aussenpolitik mit spektakulärer Nonchalance auszublenden, was den Anhängern eines aggressiven Global (und Domestic) War on Terror in die Hände spielt.
Ineffizient und kontraproduktiv
Die New Terrorism These wirkt auch für die praktische Arbeit in diesem Phänomenbereich lähmend. Sie postuliert nämlich, es müssten Islamwissenschaftler oder Imame ans Werk, und erklärt zugleich erprobte sozialpädogische Ansätze als untauglich.
Unselten kommt es zudem vor, dass Praktiker in der Arbeit mit betroffenen Personen ad-hoc angeeignetes Wissen über Islam oder das Phänomen des Jihadismus mobilisieren. Während von einer theologischen Konfrontation in der sogenannten Disengagement-Arbeit ohnehin abgeraten wird, ist der überproportionale Fokus auf Religion vor allem bei komplexen Werdegängen völlig fehl am Platz: Strukturelle Dysfunktionalitäten sowie sozial- und geopolitische Ungerechtigkeiten werden aussen vor gelassen, obschon sie für viele betroffene Personen eine zentrale Rolle in ihren Werdegängen spielen. Das nährt Frustrationen und Gefühle der Entfremdung.
Gesellschaftsschädliche Präventionspolitik
Unvermeidlich blies die These schliesslich essentialisch-orientalistischen Stereotypen über Islam und mit ihm assoziierte Personen frischen Wind in die Segel. Auf etwas subtilerer Ebene konstruierte die These nämlich ein Kontinuum, welches besagt, dass «mehr Islam» die Wahrscheinlichkeit von demokratiefeindlichen und gewaltverherrlichenden Einstellungen erhöhe. Hier ist übrigens der Ausdruck “islamischer Terrorismus”, der auch in den reputabelsten Medien verwendet wird, inkorrekt und irreführend.
Dass sich als Folge dieser Tendenzen die Rufe nach Terrorismusprävention mit der Pauschalverdächtigung Personen muslimischen Hintergrundes überschneiden, liegt auf der Hand. Jüngste Forschungsarbeiten in mehreren europäischen Staaten zeigen auf, dass diese Versicherheitlichung eines bedeutenden Bevölkerungsanteils diesem das Gefühl einer Unmöglichkeit oder zumindest Unerwünschtheit seiner gesellschaftlichen Teilhabe vermittelt.