Dies ist der erste Teil aus einer dreiteiligen Serie über den Schweizer Anti-Terror-Kampf, den ich mit Unterstützung von Carlos Hanimann für die Republik verfassen durfte. Lesen Sie hier.
Haben Sie das Video gesehen? Von dem Teenager, der eine dunkle Kapuze über den Kopf gezogen hatte und in die Kamera sprach?
Im Video schwor der Junge dem IS die Treue. Der notorischen Terrormiliz «Islamischer Staat». Er hatte noch nicht mal Flaum im Gesicht.
Kurz darauf stach der Teenager in Zürich-Selnau auf einen sichtbar jüdischen Menschen ein. Das Opfer überlebte nur knapp. Das war im März.
Haben Sie auch mitbekommen, dass in der Deutsch- und Westschweiz mehrere Jugendliche verhaftet wurden? Die Behörden werfen ihnen vor, sie hätten den IS unterstützt. Einige hätten gar Pläne geschmiedet für Gewalttaten. Im Vorfeld der Pride im Juni wurden ebenfalls zwei Jugendliche festgenommen: Es wurde gemutmasst, sie hätten Sympathien für den IS gehegt und einen Anschlag geplant.
Auch in Deutschland wurden mehrere Jugendliche wegen Terrorverdachts verhaftet. Dasselbe in Belgien. Alles in diesem Frühling.
Am letzten Freitag stach ein Mann am Solinger Stadtfest, zwischen Köln und Düsseldorf wild auf Menschen ein und tötete 3 Personen.
Der IS bekannte sich zum Verbrechen.
Eine terroristische Organisation, die vor zehn Jahren auf dem Zenith war und die für die meisten Menschen in Europa heute klingt wie ein Gespenst aus der Vergangenheit.
ISIS.
Oder: Daesh.
Erinnern Sie sich noch?
Ich habe den Grossteil der letzten zehn Jahre damit verbracht, dieses Phänomen zu erforschen. Ich bin Kriminologe an der Universität Lausanne. Einige bezeichnen mich auch als Terrorismusforscher.
Ich habe untersucht, warum ab 2012 tausende junge Männer ihre europäische Heimat verliessen, um sich kämpfenden Gruppierungen in Syrien und im Irak anzuschliessen. Säkularen Gruppen wie der Freien Syrischen Armee. Der kurdischen YPG. Christlichen Milizen. Auch solchen, die mit der Al-Qaïda verbandelt waren. Dazu gehörte auch der «IS», der sich von der Al-Qaïda löste und 2014 sein «Kalifat» ausrief.
Für viele war der Syrienkrieg der Auslöser.
Nach dem arabischen Frühling im Jahr 2011 hatte der Diktator Baschar al-Assad jegliches Aufbegehren brutal zerschlagen. Es folgte ein jahrelanger, blutiger Bürgerkrieg.
Sie haben bestimmt die Bilder gesehen: Von Städten, die in Schutt und Asche liegen. Von den Kindern mit Sauerstoffmasken über dem Gesicht, nachdem sie mit Giftgas angegriffen worden waren. Von Eltern, die die leblosen Körper ihrer Kinder aus den Trümmern bergen. An solchen Bildern kam man damals nicht vorbei.
Der Syrienkrieg war eine cause célèbre. Junge Muslime aus Europa fuhren nach Syrien, um gegen diese Ungerechtigkeiten zu kämpfen. Gegen Assad. Ähnlich wie die Anarchisten und Kommunisten in den 1930er Jahren. Die waren damals nach Spanien gefahren, um gegen die Diktatur Francos zu kämpfen.
Ich wollte verstehen, was diese Menschen antreibt. Warum sie sich mit den Konflikten in der arabisch-islamischen Welt identifizieren. Warum sie in einen Krieg zogen. Ich führte Interviews, in der Schweiz, in Kanada, im Libanon. Mit Dutzenden Menschen: sogenannten «Foreign Fighters», Jihadreisenden. Aber auch mit Aktivisten, die sich mit Konflikten in der arabischen Welt identifizieren und gewaltlose Möglichkeiten finden, darauf zu reagieren. Letztes Jahr habe ich ein Buch darüber veröffentlicht.
Im Wesentlichen waren drei Punkte für die Mobilisierung ausschlaggebend bei den Fällen, die ich untersucht habe: identification, appropriation und responsibilisation.
In aller Kürze heisst das: Menschen identifizieren sich häufig über sogenannte Moral Shocks auf Social Media und nehmen Anteil an einer besonders ungerechten Situation (identification). Diese Ungerechtigkeit machen sie sich zu eigen, weil sie einen persönlichen Anknüpfungspunkt haben – sei es religiös, politisch oder ethnisch (appropriation). Und schliesslich empfinden sie ein Verantwortungsbewusstsein: Sie müssenetwas gegen die Ungerechtigkeit tun (responsibilisation).
Sie denken, dass bezogen auf Gaza derzeit vielleicht ganz ähnliche Prozesse bei vielen Menschen ablaufen?
Es gibt in der Tat einige Parallelen. Da ist die Empörung über das Leiden unschuldiger Menschen und die Ungerechtigkeit, die ihnen widerfährt. Und dann ist da der IS, der versucht, diese Empörung für seine Zwecke zu instrumentalisieren.
So war es ja damals auch im Syrienkrieg. Zudem kam bei einigen ein traditionelles Männlichkeitsbild ins Spiel oder ein religiös klingendes Konzept wie Jihad. Dann konnte das dazu führen, dass jemand bereit war, nach Syrien zu reisen, um zu kämpfen. Natürlich brauchte es noch die richtigen Netzwerke. Und die Möglichkeit, den Alltag abzubrechen und tatsächlich loszuziehen.
Die Prozesse können bei Gaza ähnlich sein. Aber die Lage ist doch eine andere. Der vielleicht wesentlichste Unterschied betrifft die Geografie: Nach Syrien kam man 2014 relativ einfach. Nach Gaza kommt heute niemand. Vielleicht ist die neue IS-Generation deshalb auch gefährlicher. Weil sie eben nicht dort kämpfen kann, wo sie eigentlich möchte.
In meinen Interviews fiel mir zudem auf: Ein Teil des Problems ist, wie die Behörden Terrorismus bekämpfen. Und wie sie mit Radikalisierung umgehen.
Deshalb lenkte ich meinen Fokus auf die behördlichen Antworten, insbesondere in der Schweiz. Denn es gibt fast keine Forschung zum contreterrorisme helvétique.
Ich setzte mich also immer wieder in das Bundesstrafgericht in Bellinzona, wo fast alle Terrorismus-Fälle verhandelt werden. Ich las hunderte Seiten Urteile, Strafbefehle, psychiatrische Gutachten und protokollierte Einvernahmen. Hätte ich das alles ausgedruckt, man hätte locker ein ganzes Zimmer damit füllen können.
Ich sprach mit Verteidigern und Staatsanwältinnen. Ich redete mit Expertinnen, Sozialarbeitern, Polizistinnen, Geheimdienstlern.
Und ich sprach mit Männern, die angeklagt oder verurteilt waren. Oder ihre Strafe schon abgesessen hatten. Das machte vieles einfacher. Meistens gab es einen «Gatekeeper»: Sozialarbeiter, Anwälte, Polizisten, auf jeden Fall eine Person, der sie vertrauten und die den Kontakt für mich herstellte.
Aber klar: Viele verschlossen sich trotzdem, wollten weder mit Journalistinnen noch mit Forschern sprechen.
In der Schweiz habe ich etwa ein Dutzend Männer interviewt. In Cafés, in offiziellen Büros, irgendwo in der Natur, immer wieder war ich auch bei ihnen zu Hause und habe mit ihnen über ihr Leben gesprochen.
Über die Entscheidungen, die sie fällten.
Über die Polizeiberichte, die das zur Folge hatte.
Oder die Urteile, die gefällt wurden.
Wir sprachen über Dinge, die sie bereuten, und über Dinge, die sie wütend oder traurig machten.
Einfach gesagt: Ich versuchte zu verstehen, wie die Anti-Terror-Massnahmen sich auf ihr Leben auswirkten. Ich wollte wissen, wie sie leben mit dem Label: «verurteilter Terrorist».
Vielleicht denken Sie: Ein Ahmed Ajil, der mit Jihadisten spricht – kann das gut gehen?
Sie denken das nicht? Dann verzeihen Sie die Unterstellung. Es ist nur so, dass mir die Frage schon oft genug gestellt wurde. Sie wären damit also nicht allein.
Ich finde die Frage berechtigt. Ich bin selbst ein Vertreter der reflektierten Forschung, und finde, man muss sich mit seiner eigenen Positionalität auseinandersetzen. Vor allem bei heiklen Forschungsobjekten.
Es gibt methodische Tücken bei der Forschung, wenn man selbst einen arabisch-muslimischen Hintergrund hat. Ich habe mich damit auseinandergesetzt und dazu publiziert.
Die kurze Antwort auf die Frage lautet: Der «Insider»-Status kann helfen, aber er hat mir auch einige Türen verschlossen.
Weil man mich eher kategorisieren konnte: Woher bist du genau? Bist du Schiite oder Sunnite? Wie stehst du zu Saddam Hussein? Wie zu Bashar al-Assad? Häufig fand ich diplomatische Antworten, manchmal blieb das Gegenüber skeptisch.
Ganz ehrlich: Manchmal hätte ich mir gewünscht, weiss zu sein und einen amerikanischen Pass zu haben. Das hätte einiges einfacher gemacht.
Wie auch immer: Ich bin in die Welt dieser Menschen eingetaucht. Menschen, die von Anti-Terror-Massnahmen betroffen waren, meist strafrechtlichen Massnahmen. Studying security from below. So nennen wir das in der Forschung. Oder in diesem Fall: studying terrorism from below.
Der IS. Die Aufregung um junge Leute, die plötzlich verschwanden und dann in der damaligen IS-Hochburg Raqqa wieder auftauchten. Das ist alles schon eine Weile her.
Ich habe einen Mann getroffen, der wurde verurteilt für Dinge, die er vor über zehn Jahren getan hat. Bis heute ist aber unklar, ob er jetzt vielleicht doch noch ein weiteres halbes Jahr ins Gefängnis muss oder nicht.
Anfang dieses Jahres hat er mich angerufen. Ich nenne ihn hier Matteo. In Wirklichkeit heisst er anders und seine Geschichte ist wirklich ziemlich verrückt. Ich werde Ihnen später noch mehr über ihn erzählen.
Jedenfalls: Als Matteo im Januar anrief, war er total aufgewühlt.
Er hatte gerade ein Schreiben vom Vollzugsamt erhalten. Es ging um eine Reststrafe von einem halben Jahr, die immer noch offen war. Er hatte lange geglaubt, er könne eine Fussfessel tragen und müsse nicht mehr zurück ins Gefängnis. Aber dann hiess es im Januar, das gehe vermutlich doch nicht. Wegen einer Formalität.
Jetzt hat er Angst, dass er doch nochmal sitzen muss.
«Ahmed», sagte er, «ich kann nicht in den Knast. Keine Chance. Was soll ich mit meiner Wohnung machen? Mit meiner Familie?»
Vor zehn Jahren war er eine grosse Nummer in der Schweizer Islamistenszene. Das ist lange her. Heute hat er ihr längst den Rücken gekehrt.
Er hat mittlerweile ein zweites Kind. Er verfolgt fast keine Nachrichten. Über den Krieg in Gaza will er nichts hören. Von der Messerattacke in Zürich erfährt er erst, als ich ihm davon erzähle. Er traut sich kaum mehr in eine Moschee, weil er fürchtet, das könnte Ärger geben. Für ihn. Und die Moschee.
Seit fast zehn Jahren lebt er so. Was denken Sie: Ist das genug? Oder wie lange soll jemand büssen?
Stellt man nach ein paar Jahren Gefängnis alles wieder auf Null? Oder sollte einer ein Leben lang markiert bleiben, wenn er einmal einer Terrormiliz nachhing?
Kommt darauf an, was er genau getan hat. Mit Freunden mit einer IS-Fahne zu posieren oder jemandem einen IS-Kampfgesang per WhatsApp zu schicken, ist nicht das Gleiche wie einen Journalisten in Guantanamo-orangem Overall vor laufender Kamera hinzurichten. Oder?
Beim Thema Terrorismus klappt diese Unterscheidung nicht immer so gut. Der Kampf gegen Terror wird häufig auf dem Rücken von kleinen Fischen ausgetragen, die mit Gewalt wenig am Hut haben.
Wie würden Sie jemanden bestrafen, der Interviews mit Islamisten führte? Gehört er ins Gefängnis, weil er sie vielleicht verharmlost? Wer entscheidet, wo strafbare Propaganda anfängt und wo der Journalismus endet?
Oder wenn Sie die Frage auf mich und meine Forschung beziehen wollen: Gebe ich den Leuten, von denen ich Ihnen später noch erzählen werde, eine Plattform? Gehe ich damit zu weit?
Ich frage das, weil ich so jemanden getroffen habe. Einen jungen Mann, der nach Syrien reiste und Menschen interviewte, die gegen den Diktator Baschar al-Assad kämpften. Rebellen. Religiöse Gelehrte.
Sein Name ist Naïm Cherni.
Er findet bis heute: Ich bin Filmemacher, ich hatte journalistische Absichten. Er sagt, er habe mit den Interviews junge Schweizer Muslime davon abhalten wollen, dass sie sich dem IS anschliessen.
Die Schweizer Gerichte sehen das anders: Für sie ist Cherni ein Terrororunterstützer.
Sein Fall liegt derzeit beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Aber bevor ich Ihnen mehr über Cherni erzähle, lassen Sie mich kurz ein paar Dinge über Terrorismus und Antiterrorismus erklären. Und dafür müssen wir ein paar Jahre zurück.
Bis zum 11. September 2001. – Sie wissen schon, was jetzt kommt …
Fast alle Erwachsenen können eine Geschichte über diesen Tag erzählen. Wo sie waren. Was sie gerade taten. Wie sie davon erfuhren, dass in New York zuerst eines, dann ein zweites Flugzeug in die Twin Towers flog. Fast 3000 Menschen starben beim tödlichsten Terroranschlag der Geschichte.
An diesem Tag stürzten aber nicht nur die Zwillingstürme ein. Auch der Rechtsstaat kam ins Wanken.
Geheimflüge. Geheimgefängnisse. Folter. Guantanamo. War on Terror. Krieg in Afghanistan 2001. Krieg im Irak 2003. Das war ein Desaster mit hunderttausenden Toten.
Ich komme aus dem Irak. Ich kann Ihnen gut sagen, wo ich am Morgen des 20. März 2003 war. Was ich tat. Wie ich davon erfuhr, dass die Bomben auf Bagdad niedergingen.
Ich wachte auf durch den Lärm zu ungewohnt früher Stunde. Ich ging runter ins Wohnzimmer. Meine Eltern standen vor dem Fernseher, in Schlafanzügen, und schauten auf den Bildschirm. Er zeigte die ersten Bombardierungen. Ich weiss nicht mehr, welchen Sender sie schauten, aber ich weiss, dass sie dazu schwiegen. Ich wünschte, sie hätten etwas gesagt.
Sie schwiegen auch später viel zum Krieg. Aber er holte mich und meine Brüder immer wieder ein.
Als mein Cousin entführt wurde. Von Milizen im Süden.
Als mein Grossvater in Bagdad ermordet wurde. Von Al-Kaida-Anhängern, sagen die einen. Von iranischen Saboteuren, sagen andere. So richtig konnte mir bisher niemand Auskunft geben. Ein offenes Forschungsprojekt.
Der Kampf gegen Terror war einerseits gegen aussen gerichtet. Aber schnell wandte er sich gegen innen. Nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. Spätestens nach den Terroranschlägen auf Züge in Madrid im Jahr 2004 konzentrierten sich die europäischen Sicherheitsbehörden auf sogenannte «Home-grown-terrorists».
In dieser Zeit kam in der Forschung auch der Begriff der «Radikalisierung» auf. Genau genommen, der «islamistisch geprägten» Radikalisierung. In Sicherheitskreisen, unter Forscherinnen – alle stellten die gleiche Frage: «What happens before the bomb goes off?» – so fasste es der Radikalisierungsforscher Peter Neumann zusammen.
Dann kamen ab 2015 die Attentate des IS: im Bataclan in Paris, am Flughafen in Brüssel, am Weihnachtsmarkt in Berlin. Mit ihren Anschlägen verlagerten die Attentäter den Krieg gegen den Terrorismus in die europäischen Metropolen.
Die Sicherheitsbehörden konnten sich nicht mehr nur darauf konzentrieren, Terroristen im Irak oder in Afghanistan zu bekämpfen. Sie mussten Terrorismus so früh wie möglich erkennen – und verhindern.
Das bedeutete: Prävention, Früherkennung, Gefahrenabwehr.
Tönt vielleicht nach Minority Report und Weltpolitik. Nach CIA, BND, MI5. Aber das war hierzulande nicht anders. Die Schweiz machte auch mit. Und heute hat sie einen recht grossen Katalog an Anti-Terror-Massnahmen.
Grundsätzlich gibt es zwei Formen der Prävention: ich nenne sie «harte» und «weiche» Prävention.
Die harte Prävention will die terroristische Gefahr wenn möglich eliminieren.
Das heisst: Sogenannte Gefährder und Terrorsympathisanten sollen Schweizer Boden möglichst verlassen. Bei Ausländerinnen und Doppelbürgern ist das die höchste Priorität. Auch wenn sie hier geboren und aufgewachsen sind. Auch wenn die Schweiz ihre Heimat ist.
Die Logik dahinter ist einfach: Wer nicht in der Schweiz ist, kann hier auch keine Anschläge verüben. Und: Die Behörden können mit relativ wenig Aufwand zeigen, dass sie etwas gegen Terrorismus tun.
Aber weil die Verbannung nicht immer möglich ist, dienen harte Präventionsmassnahmen noch einem zweiten Zweck: Sie sollen die Gefahr zumindest neutralisieren. Dazu werden Gefährder in ihren Freiheiten eingeschränkt, ihre Beweglichkeit so weit wie möglich reduziert.
Harte Prävention lässt sich am besten am Beispiel des Gesetzes über die PMT erklären, den «präventiv-polizeilichen Massnahmen zur Terrorismusbekämpfung». Es ermöglicht eine Reihe von Massnahmen gegen sogenannte «terroristische Gefährder». Das sind Leute, die sich nicht strafbar gemacht haben, bei denen es aber konkrete Indizien gibt, dass sie zu einer “terroristischen Aktivität” verleitet werden könnten. Sie können seit 2022 mit Rayonverboten belegt werden. Mit Kontaktverboten. Elektronischem Monitoring. Oder Hausarrest. Das gilt auch für Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren.
Ausserdem gibt es weitere administrativrechtliche Massnahmen, die nichts mit dem Strafrecht zu tun haben, aber in der Terrorismusbekämpfung zum Zug kommen. Sei es, weil die Person die innere oder äussere Sicherheit der Schweiz gefährdet. Oder, weil sie dem Ansehen oder den Interessen des Landes schadet. Einreiseverbote und Ausweisungen etwa, die das Fedpol ohne Gerichtsurteil anordnen kann. Das Staatssekretariat für Migration wiederum kann die Staatsbürgerschaft entziehen. Oder die vorläufige Aufnahme als Asylsuchender. Die kantonalen Behörden können die Niederlassungsbewilligung entziehen (oder nicht verlängern), wenn gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung verstossen wird.
Diese Verschiebung der Terrorismusbekämpfung in den präventiven Bereich birgt eine ganze Reihe von Problemen. Der Präventivstaat ahndet nämlich nicht strafrechtliche Delikte, sondern bekämpft mit administrativrechtlichen Massnahmen potentielle Gefahren für die Sicherheit.
Ein Hauptproblem: Die Hürden für die Anordnung sind tiefer, die Prozessgarantien für die Betroffenen schwächer.
Die weiche Prävention wiederum ist in einem Nationalen Aktionsplan festgehalten, der zahlreiche Massnahmen vorsieht.
In Kürzestform: Radikalisierung soll im Keim erstickt werden. Sozialämter, Jugendarbeiterinnen, Integrationsstellen, Schulen und religiöse Fachpersonen sollen frühzeitig eingreifen können, wenn sie merken, dass eine Person sich radikalisiert, zunehmend extreme Ansichten vertritt. Bei Bedarf sollen sie die Polizei oder die Nachrichtendienste einschalten.
Eigentlich ist die Grundidee nachvollziehbar. Sie hat aber, Sie ahnen es, ihre Tücken.
Mit der weichen Prävention rücken ganz neue gesellschaftliche Bereiche in den Fokus der Sicherheitsbehörden. In der Forschung nennen wir das «securitisation», Versicherheitlichung. Das bedeutet, dass Bereiche, in denen eigentlich sozialpräventiv gearbeitet wird, plötzlich durch präventiv-repressive Logiken unterwandert werden.
Konkret heisst das: Die Frau Sigrist, die Sekundarschullehrerin, ist nun Teil der Anti-Terror-Maschinerie. Sie wird dafür sensibilisiert, auf Anzeichen einer Radikalisierung zu reagieren. Das Gespräch zu suchen, andere Stellen einzuschalten – für eine Risikoabklärung, für strafrechtliche Einschätzungen.
Der Nationale Aktionsplan hält ausdrücklich fest: Radikalisierung ist nicht nur islamistisch. Sie kommt von rechts und links, es kann um die PKK gehen oder um Impfgegner.
Aber seien wir ehrlich: Woran denken Sie, wenn Sie das Wort Terrorismus hören?
Die Chancen sind recht hoch, dass Sie jetzt gerade an Al-Qaida oder den IS denken.
Deshalb fokussiert sich die Prävention in der Praxis auch auf Anzeichen, die eben auf eine islamistische Radikalisierung hindeuten können: Das Mädchen trägt von heute auf morgen den Hijab, der Junge schüttelt die Hand von Frau Sigrist nicht mehr.
Und hier liegt das Problem: Je früher man eingreifen möchte, desto diffuser sind die Anzeichen. Und desto höher ist das Risiko von Stigmatisierung und Ausgrenzung.
Der Kern der Terrorismusbekämpfung bleibt aber trotz all diesen Massnahmen immer noch das Strafrecht.
Eigentlich sind terroristische Gewalttaten durch allgemeine Straftatbestände abgedeckt: Mord, schwere Körperverletzung, Geiselnahme, Gefährdung durch Sprengstoffe oder giftige Gase. Auch die Vorbereitungen dazu sind strafbar.
Diese Strafartikel kamen auch bei den (IS-inspirierten und psychisch auffälligen) Tätern zur Anwendung, die 2020 in Morges und in Lugano Messerattacken verübten. Das wird voraussichtlich auch für die Messerattacke von Zürich gelten.
Terrorismusspezifische Strafbestimmungen sind da sekundär.
Sie fragen sich vielleicht, wozu es die denn überhaupt gibt.
Die Antwort lautet: Um nicht nur die Verbrechen selbst zu ahnden. Sondern auch die Unterstützung der Organisationen, die sie begehen. Terroristische Organisationen sind im Strafgesetzbuch mittlerweile ausdrücklich genannt.
Zwischen 2015 und 2022 gab es ein Gesetz, das den IS, beziehungsweise Al-Qaïdaverbot – per Notrecht. Wer eine der beiden Gruppierungen unterstützte – propagandistisch, materiell, personell finanziell – oder «ihre Aktivitäten auf andere Weise förderte», wurde mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft. (Heute ist das Verbot in der ordentlichen Gesetzgebung festgehalten.)
In aller Regel landen Terrorismus-Fälle am Bundesstrafgericht in Bellinzona. Ich habe die Urteile des Bundesstrafgerichts mit einem Kollegen untersucht. Dabei stellten wir fest:
Erstens: Terrorismus ist in den Augen des Schweizer Strafrechts fast ausschliesslich islamistisch.
Das führt zu einem institutionellen Bias und einer Art Feedback-Loop:
Je mehr man sich auf ein Phänomen fokussiert, desto mehr Rechtsprechung gibt es in diesem Bereich. Je klarer die Rechtslage wird, desto eher werden Verfahren eröffnet. Was wiederum zu neuen Verurteilungen führt.
Zweitens: Die Begriffe Unterstützung und Beteiligung werden bezogen auf die Gruppierungen Al-Qaida und IS sehr grosszügig ausgelegt.
Strafbar ist etwa, in kurzer Zeit zwei Propagandabilder des IS zu verschicken. Strafbar ist, ein Spital, das in einem IS-kontrollierten Gebiet operiert, positiv darzustellen. Strafbar ist der Versuch, in ein Flugzeug nach Istanbul zu steigen, um sich dem IS anschliessen.
Und strafbar ist auch – und jetzt sind wir dann gleich beim Fall von Naïm Cherni, den ich anfangs erwähnt habe – einen jihadistischen Geistlichen zu interviewen, der ein Rebellenbündnis in Syrien positiv darstellt, wenn diesem Bündnis eine Gruppierung angehört, die Bezüge zur Al-Qaida aufweist …
Sie merken es beim Lesen: Die Rechtsprechung kann sehr weit reichen.
Aber die Sicherheitsbehörden können nicht alle und jede Sympathiebekundung für terroristische Organisationen verfolgen. Deshalb wählen sie aus. Und weil der Fokus der Behörden seit dem 11. September 2001 auf islamistisch inspiriertem Terrorismus liegt, sehen sich die Sympathisanten solcher Gruppen überdurchschnittlich oft mit staatlicher Gewalt konfrontiert. Während Personen, die Sympathien zum Beispiel für rechtsextremen Terror hegen, straflos bleiben.
Sie sehen schon: Es ist nicht einfach.
Es gibt ein Klima der Angst vor einem terroristischen Anschlag auf Schweizer Boden. Und darum wollen die Behörden das Korsett sehr eng schnüren und jede mögliche Unterstützung von Terrororganisationen unterbinden.
Natürlich: Wer zwei Propagandabilder verschickt, wandert nicht für zehn Jahre ins Gefängnis. Das Strafmass kann milde ausfallen. Aber die Folgen einer Verurteilung reichen viel weiter, tiefer. Und sie wirken auch nach Ende der Strafe fort.
Denn das Label «verurteilter Terrorist» kennt keine Nuance.
Das habe ich bei meinen Interviews mit Verurteilten selbst beobachten können. Ich erzähle Ihnen in den kommenden Tagen mehr über diese Begegnungen.
Naïm Cherni, der Filmemacher – er hadert bis heute mit der Verurteilung als «Terrorismusunterstützer». Er gehörte zum sogenannten Islamischen Zentralrat der Schweiz, der Gruppe um Qassim Illi und Nicolas Blancho. Wie er durch die Verurteilung erst richtig zum Glauben fand, und wieso er seinen Namen nicht ändern möchte, das erzähle ich Ihnen morgen.
Matteo wiederum ist ein ganz anderer Fall. Die Medien nannten ihn den «Emir von Winterthur». Oder den «IS-Leitwolf». Er wurde Ende 2023 rechtskräftig zu 36 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Er hat bis heute nie ein Interview gegeben. Wieso er es nun doch tut, das erzähle ich Ihnen übermorgen.