Die neuen Massnahmen zur Terrorismusbekämpfung, über die das Parlament bald berät, höhlen die Freiheitsrechte in der Schweiz aus.
Was haben George Floyd, Corona und Terrorismus gemeinsam? Wenn man etwas genauer hinschaut, eine ganze Menge. Lassen Sie mich erklären.
Der Hashtag #BlackLivesMatter mobilisiert Menschen in Massen im Netz und auf der Strasse. Das ist zu begrüssen. Und dennoch problematisch. Denn was momentan passiert, zeigt auf, dass es einen skrupellosen Mord an einem wehrlosen Bürger braucht, dessen Videoaufnahme im Übrigen keinen Zweifel an seiner Unschuld lassen darf, um einen Aufschrei über strukturellen und institutionellen Rassismus und Polizeigewalt auszulösen.
Es zeigt zudem, dass man sich lieber lauthals über die rechtsstaatlichen Probleme weit weg als diejenigen ganz nah aufregt. Schliesslich ist das ja auch die USA, die nicht erst seit Donald Trump dafür berüchtigt sind, es mit den Menschenrechten nicht so genau zu nehmen. Doch was wäre, wenn sich die Schweiz in dieser Hinsicht bald gar nicht mehr so sehr von der Grossmacht jenseits des grossen Teiches abheben würde? Vom «War on Terror» à l’américaine scheint sie sich auf jeden Fall inspirieren zu lassen.
Wenn das Gesetz über neue polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) nächste Woche im Nationalrat angenommen wird, kann Kindern ab 12 Jahren, die keine Straftaten begangen haben, ein Kontaktverbot zu bestimmten Personen oder eine Kontaktpflicht mit Behörden auferlegt werden. Ihnen kann befohlen werden, ein bestimmtes Gebiet, z.B. die Gemeinde, nicht zu verlassen und sie können sich zum Tragen einer elektronischen Fussfessel gezwungen sehen. Ab 15 Jahren dürfen sie auch zuhause eingesperrt werden. Der Hausarrest ist übrigens die einzige Massnahme, die Fedpol nicht direkt anordnen kann, sondern beim Berner Zwangsmassnahmengericht beantragen muss. Alle Massnahmen basieren auf der Einschätzung Fedpols, dass eine Person als «terroristischer Gefährder» gilt. Keine Straftaten, auch keine Vorbereitungen dazu; einfach «gefährlich» halt.
Gefährlichkeit einzustufen, das ist bekanntlich eine höchst subjektive Angelegenheit, bei der leider allzu oft kollektive Imaginäre und Stereotypen mitspielen. Der weisse Polizist Derek Chauvin dachte vermutlich auch, dass George Floyd «gefährlich» war.
Eine Fehleinschätzung der Gefährlichkeit durch Fedpol kostet die betroffene Person zwar nicht das Leben (zumindest nicht unmittelbar), doch eine ganze Reihe von Grundrechten, durch deren Wahrung ein Rechtsstaat überhaupt erst zu einem wird. Kein Wunder, dass die Gesetzesvorlage von Menschenrechtsorganisationen, dem Europarat, und den Vereinten Nationen scharfe Kritik geerntet hat. Doch in Bern zeigt man sich davon unbeirrt. Die Sicherheitskommission des Nationalrats wünscht sich gar, dass man Gefährder*innen nicht nur zu Hause einsperrt, sondern richtig.
Und hier kommt Corona ins Spiel. Was wir Schweizer*innen nämlich in den letzten Monaten bewiesen haben, ist treuer Gehorsam und Vertrauen in die Bundesbehörden. Das ist ebenfalls zu begrüssen. Und dennoch problematisch.
Es ist nämlich nicht gerade Zeugnis eines gesunden kritisch denkenden Geistes, behördlichen Akteuren systematisch Unfehlbarkeit zu attestieren. Parlamentarier*innen, Polizist*innen, Staatsanwält*innen, Richter*innen: alles Menschen, die fehlbar sind. Die Justiz ist fehlbar. Das Fedpol ist fehlbar. Wieso also einer behördlichen Instanz praktisch ungebändigte Macht anvertrauen, die Grundrechte einer Person dermassen massiv zu beschneiden, aufgrund ihrer Vermutung, dass diese in Zukunft unter Umständen womöglich zu einem Sicherheitsrisiko werden könnte? Das ist zu viel Konjunktiv für einen Rechtsstaat.
Für diejenigen, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen möchten, gäbe es schliesslich ein ganz pragmatisches Argument. Was man Terrorismus nennt, ist nämlich ein primär politischer Akt, auch wenn das oft vergessen geht. Terrorismus gedeiht da, wo Menschenrechte mit Füssen getreten werden. Dort, wo Menschen diskriminiert, marginalisiert, grundlos eingesperrt und ermordet werden. So knifflig die Terrorismusbekämpfung auch sein mag, eines ist daher sicher: Die Antwort auf Terrorismus ist mehr Rechtsstaat, und nicht weniger.
Ahmed Ajil ist Forscher an der Ecole des sciences criminelles der Universität Lausanne. Er schreibt seine Doktorarbeit zu politisch-ideologischer Mobilisierung und Gewalt.
Dieser Beitrag erschien im Tagesanzeiger, Ausgabe vom 13. Juni 2020.